Die Sucht, nicht im Jetzt zu sein

Die Sucht, nicht im Jetzt zu sein

Die Sucht, nicht im Jetzt zu sein

Warum du immer wieder handelst, obwohl du fühlen solltest.

Da ist dieses Unwohlsein. Dieses leise, nagende Ding. Du bist nicht ganz da. Es drückt, es zieht, es nervt. Du spürst es im Bauch oder in der Herzgegend. Und zack – machst du was. Du reagierst. Schnell. Zackig. Ballert es aus dir heraus.

Du schreibst dem Hotel eine Bewertung. Du rennst ins Spa. Du formulierst ein Ziel. Du schreist im Lokal nach dem Kellner. Du sagst: „Ich muss das jetzt loswerden.“

Aber in Wahrheit: Du konntest das Gefühl nicht aushalten. Nicht still sein. Nicht warten. Nicht fühlen, dass du gerade komplett im Leeren hängst.

Und das nennst du dann: Klarheit. Handlung. Kommunikation. Zielsetzung.

Aber ich nenn’s: Sucht.

Die Sucht, die keiner sieht

Ich hatte beim letzten Retreat eine Teilnehmerin – über 80 Jahre alt. Nicht in sich ruhend. Reaktiv. Wie ein Maschinengewehr. Kaum hatte ich etwas ausgesprochen, ballerte sie verbal zurück. Kein Innehalten. Kein Raum zwischen Reiz und Reaktion. Sie hörte nicht wirklich hin.

Ich musste ihr – freundlich, aber klar – das Wort nehmen. Und erst da hat sie zum ersten Mal wirklich hingehört. Also: hin-gehört im wahren Sinn. Nicht nur „akustisch aufgenommen“, sondern etwas wirken lassen.

Sie hat gezuckt, Grimassen geschnitten, wollte immer wieder den Finger heben. Ich habe sie nur angeblickt, sie aufgefordert zu atmen und zu warten. Dann kam es langsam. Etwas mehr Ruhe, vielleicht sogar eine Stille, die sie längst verloren hatte.

Ist sie als schweigender Zen-Mönch nach Hause gegangen? Nein. Aber kleine Samenkörner wurden gelegt. Plaudertasche – so nannte die geistige Welt sie am Schluss. Liebevoll, aber treffend.

Na, und du, musst du auch immer gleich und unbedingt etwas erwidern?

Der Trick mit dem Ziel

Neulich in meiner kostenlosen Gruppe: „Ich hab ein Ziel: Ich will nicht mehr lieb sein, sondern klar.“

Klingt schön. Es ist aber leider: raffinierte Vermeidung.

Denn Klarheit ist kein Ziel. Klarheit ist eine Entscheidung im Moment. Nicht morgen. Nicht nach zehn Übungen. Jetzt. Hier.

Wenn du sagst, du willst „nicht mehr lieb sein“, dann sei es jetzt nicht. Sag „nein“. Sag „stopp“. Oder sei ehrlich und sag: „Ich trau mich grad nicht.“ Aber bitte hör auf, aus deiner Angst ein Ziel zu machen.

Denn genau das ist die Sucht dahinter – die Sucht, dich keiner Reaktion zu stellen. Nicht deinem Partner. Nicht deinen Eltern. Nicht der Gruppe. Nicht dir selbst. Also bastelst du dir eine „spirituelle Wegstrecke“, auf der du dich weiter verstecken darfst – mit gutem Gewissen.

Du kannst dann immer sagen: „Ich arbeite dran.“
„Ich versuche es.“ „Ich hab ja schon was verändert.“ „Ich bin auf dem Weg.“

Aber in Wahrheit ist das: „Ich halte das Echo meiner Klarheit nicht aus – also verschiebe ich sie.“

Das ist keine spirituelle Entwicklung. Das ist Harmoniesucht. Sich verleugnen. Nicht die eigene Wahrheit sprechen und vertreten. Spirituell verpackt – aber im Kern feige.

Spiritualität als Flucht vor dem, was gerade ist. Nicht als Wahrheit.

Der Impuls, zu fliehen

Ein anderer Teilnehmer vom Retreat wollte plötzlich unbedingt ins Spa. Kurz bevor wir fertig waren. Der Raum wurde ihm zu eng. Er konnte es nicht mehr aushalten. Nicht äußerlich – innerlich. Und so grätschte er mir mit seinem Druck in den Raum. Was ich nicht zuließ.

Was wirklich dahintersteckte, kam sehr bald ans Licht: Er hat tief in sich das Gefühl, nicht genug zu bekommen. Obwohl er täglich im Spa war, obwohl er zu Hause eine eigene Sauna hat – reicht es ihm nicht. Weil diese Form der Entspannung ihn nicht wirklich nährt.

Aber statt das zu fühlen, statt das auszuhalten, kam der Reflex: „Ich muss da raus. Ich bekomme sonst nicht alles, was mir zusteht.“

Das ist die Sucht: Der Glaube, dass Erfüllung irgendwo da draußen ist. Dass es noch „mehr“ geben muss. Und dass es jetzt nicht reicht.

Doch wenn du jedes Mal dem Druck entkommst, wirst du nie frei. Du bleibst ein Sklave deiner Reaktionen. In diesem Fall: ein Getriebener im Wellness-Bademantel.

Die Wahrheit ist unbequem – aber einfach

Du brauchst keine Strategie. Du brauchst keinen weiteren Kurs. Du brauchst mich nicht mal. Du brauchst nur diesen einen Satz – so simpel wie gnadenlos:

„Ich halte es jetzt aus, zu fühlen – ohne wegzurennen.“

Nicht aushalten im Sinne von Zähne zusammenbeißen. Nicht wegsperren, nicht wegdrücken, nicht brav warten, bis es vorbei ist. Sondern: Fühlen. Atmen. Dableiben. Beweglich im Schmerz. Wach im Jetzt.

Und ja – da brauchst du doch jemanden. Nicht, um dir etwas Neues zu erklären. Sondern um dich in genau diesen Momenten daran zu erinnern, wenn du wieder kurz davor bist, in dein altes Loch zu plumpsen. Deinen ewig gleichen Kladderadatsch zu veranstalten.

Du brauchst jemanden, der dich nicht schont – sondern dich erinnert. Denn schonen tust du dich schon selbst die ganze Zeit. Vor allem jemand, der nicht deine Geschichte bestätigt, sondern dein wahres Wesen ruft.