Wenn wir ein Leben leben, das nicht unseres ist
Aus Vertrauen übernehmen wir Muster, bis wir den Mut finden, sie zu hinterfragen.
Es geschieht so unmerklich, so selbstverständlich, dass wir es zunächst gar nicht bemerken: Wir übernehmen die Überzeugungen, Ängste und Träume anderer Menschen und machen sie zu unseren eigenen. Was als natürlicher Lernprozess beginnt, wird manchmal zu einem stillen Gefängnis, in dem wir ein Leben führen, das nie wirklich unseres war.
Die ersten Prägungen
Als Kinder sind wir von Natur aus empfänglich und vertrauensvoll. Wir schauen zu den Erwachsenen auf, die uns umgeben, und nehmen ihre Art, die Welt zu sehen, als die einzig mögliche Wahrheit an. Ihre Überzeugungen über Erfolg und Versagen, über Liebe und Beziehungen, über das, was „richtig“ und „falsch“ ist, werden zu unseren eigenen Glaubenssätzen.
In liebevollen, bewussten Familien geschieht dies auf eine Weise, die Raum lässt für die eigene Entdeckung und Entfaltung. Doch oft werden uns diese Prägungen mit einer Intensität und Absolutheit vermittelt, die keinen Spielraum für eigene Erfahrungen zulässt. Besonders in Familien, in denen Angst, Kontrolle oder sogar Gewalt herrschen, lernen wir früh: Es ist nicht sicher, anders zu sein. Es ist nicht erlaubt, zu hinterfragen.
Die verlorene Pubertät
Die Pubertät ist von der Natur als Zeit der Ablösung gedacht. Es ist die Phase, in der wir beginnen sollten, unsere eigene Stimme zu finden, unsere eigenen Werte zu entwickeln, unsere eigenen Grenzen zu erkunden. Doch wenn das familiäre Umfeld diese natürliche Entwicklung als Bedrohung empfindet, wenn Widerspruch bestraft und Eigenständigkeit unterdrückt wird, dann bleibt dieser wichtige Entwicklungsschritt unvollständig.
Wir spüren innerlich, dass etwas nicht stimmt. Wir stellen Fragen, wir zweifeln – aber leise, heimlich, weil wir gelernt haben, dass es gefährlich ist, diese Zweifel zu äußern. Was bleibt uns übrig? Wir sind noch abhängig, finanziell und emotional. Wir haben noch nicht die Kraft oder die Mittel, einen anderen Weg einzuschlagen.
Also fügen wir uns. Wir lernen, unsere innere Stimme zu überhören, weil wir nicht gehört werden.
Die Fortsetzung des Musters
Wenn wir endlich alt genug sind, um das Elternhaus zu verlassen, tragen wir diese gelernten Muster in uns. Wir sind so daran gewöhnt, dass andere bestimmen, was richtig für uns ist, dass wir oft unbewusst Partner oder Situationen wählen, die genau diese Dynamik fortsetzen.
Der neue Partner, der uns vorschreibt, wie wir zu leben haben. Der Beruf, den wir ergreifen, weil er den Erwartungen entspricht, nicht unseren tiefsten Sehnsüchten. Die Freundschaften, in denen wir wieder die Rolle des angepassten, problemlosen Menschen spielen.
So war es auch bei mir: Der erste Partner setzte nahtlos fort, was das Elternhaus begonnen hatte – er bestimmte, was ich durfte und was nicht, was richtig war und was falsch.
Jeder Versuch, aus diesem Muster auszubrechen, fühlt sich zunächst bedrohlich an. Die alten Ängste melden sich: Was, wenn ich abgelehnt werde? Was, wenn ich scheitere? Was, wenn ich allein bin? Oft ist der Schmerz der Veränderung größer als der Schmerz des Verharrens – zumindest kurzfristig.
Ich sehe das immer wieder in meiner Begleitung: Eine Frau möchte sich von ihrem Mann trennen, weiß genau, dass die Beziehung ihr nicht guttut … und schafft es trotzdem nicht. Die permanente innere Zerrissenheit zwischen dem, was sie fühlt, und dem, was sie lebt, legt sich wie ein Schatten über ihr ganzes Leben. Diese latente Traurigkeit strahlt sie aus, und das spüren andere Menschen. Es beeinflusst ihre Arbeit, ihre anderen Beziehungen, ihre gesamte Lebensenergie.
Der Preis des falschen Lebens
Doch unsere Seele, unser wahres Wesen, lässt sich nicht dauerhaft zum Schweigen bringen. Wenn wir permanent gegen unsere eigene Natur leben, wenn wir ständig Rollen spielen, die nicht zu uns passen, dann entsteht ein tiefer, chronischer Stress in unserem System.
Dieser Stress ist nicht nur emotional spürbar. Er manifestiert sich körperlich, energetisch, in jeder Zelle unseres Seins. Der Körper ist ehrlich … er kann nicht lügen wie der Verstand. Er zeigt uns durch Erschöpfung, durch Krankheit, durch Depression oder Angst, dass wir nicht im Einklang mit uns selbst leben.
Menschen, die jahrelang, jahrzehntelang ein Leben führen, das nicht ihres ist, zahlen einen hohen Preis. Sie werden krank – nicht nur körperlich, sondern in ihrer ganzen Existenz. Die Lebenskraft schwindet, die Freude erlischt, kein wirklicher Erfolg stellt sich im Leben ein, das Gefühl für das eigene Selbst geht verloren.
Der Weg zur Wahrheit
Es ist nie zu spät, diesen Weg zu verlassen – aber es braucht Mut. Es braucht die Bereitschaft, durch die Angst hindurchzugehen, die uns so lange gefangen gehalten hat. Es bedeutet, die Stimme in uns wiederzuhören, die vielleicht schon sehr leise geworden ist.
Manchmal geschieht das Erwachen durch eine Krise, durch Krankheit oder Verlust. Manchmal durch eine zufällige Begegnung, ein Buch, einen Moment der Stille, in dem wir plötzlich spüren: So kann es nicht weitergehen.
Der Weg zurück zu uns selbst ist kein einfacher. Er bedeutet oft, vertraute Strukturen zu verlassen, Menschen zu enttäuschen, die sich an unsere alte Rolle gewöhnt haben. Er bedeutet, Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen, auch wenn wir uns dabei zunächst verloren fühlen.
Die Heilung liegt in der Wahrheit
Aber in dieser Wahrheit, so schmerzhaft sie zunächst sein mag, liegt auch die Heilung. Wenn wir beginnen, authentisch zu leben, wenn wir unsere eigenen Werte leben, unsere eigenen Träume verfolgen, unsere eigenen Grenzen setzen – dann kehrt die Lebenskraft zurück.
Der Körper entspannt sich, weil er endlich das leben darf, was er ist. Die Seele atmet auf, weil sie endlich gesehen wird. Das Leben wird nicht automatisch einfacher, aber es wird wahr. Und in dieser Wahrheit liegt eine Kraft, die größer ist als alle Ängste.
Im Gedenken an all jene, die den Mut nicht mehr oder viel zu spät fassen konnten, ihren eigenen Weg zu gehen. Ihre Geschichten erinnern uns daran, wie kostbar es ist, authentisch zu leben – und wie wichtig es ist, einander auf diesem Weg zu unterstützen.
Über die Autorin: Ich begleite Menschen dabei, wieder zu ihrer inneren Wahrheit zu finden. Mein Ansatz verbindet spirituelle Weisheit mit bodenständiger Klarheit – für ein Leben, das von innen heraus stimmig ist.
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