Wenn Normalität krank macht

Warum Normopathie nichts mit Lebendigkeit zu tun hat

Neulich habe ich einen Podcast mit dem Psychiater Dr. Hans-Joachim Maaz gehört. Ein Wort darin ist sofort bei mir hängen geblieben: Normopathie.

Er beschreibt damit Menschen, die sich so stark der gesellschaftlichen Norm anpassen, dass sie ihre eigene Lebendigkeit verlieren. Sie machen Dinge nicht, weil sie sie selbst wollen – sondern weil „alle es so machen“ und es deswegen wohl richtig sein muss.

Das Verrückte daran: Genau diese Anpassung wird dann als gesund und normal betrachtet. Während derjenige, der anders denkt oder handelt, schnell als „falsch“ abgestempelt wird.

Ich habe dieses Spiel oft erlebt. Und ich möchte dir eine Geschichte erzählen, die zeigt, was Normopathie im Alltag bedeutet – und warum es manchmal gesünder ist, gegen den Strom zu schwimmen.

Ein Chor, ein Anruf – und pinkrote Haare

Mein ältester Sohn war damals 13 Jahre alt, mitten in der Pubertät und voll in seiner Selbstfindungsphase. Er sang bei den Augsburger Domsingknaben, und zwar nicht irgendwo, sondern in einer der ersten Stimmen. Seine Stimme war wichtig – für den Chorleiter und für das große Ganze.

Und dann kam der Moment, in dem er seine Autonomie ausleben wollte: pinke, rot gemischte Haare. Die Friseurin weigerte sich, also färbte ich sie ihm kurzerhand selbst.

Wenige Tage später klingelte mein Telefon. Am Apparat: der Chorleiter. Er war außer sich. „Frau Schwab, das geht nicht. Ihr Sohn singt bald vor dem Bundeskanzler. Er kann doch nicht mit solchen Haaren auftreten!“

Er schob noch ein Bild hinterher, das mich heute noch schmunzeln lässt: „Wenn ich 49 Jungs sage, sie sollen nach Westen laufen, dann rennen alle brav nach Westen. Nur einer rennt immer entgegengesetzt. Ihr Benjamin.“

Meine Antwort: „Das ist das Beste, was Sie mir über meinen Sohn erzählen.“

Anpassung oder Eigenständigkeit?

Natürlich blieb es nicht nur bei der Aussage. Die Erpressung folgte auf den Fuß: Wenn Benjamin die Haare nicht bis zu einem bestimmten Termin umfärbt, würde er aus dem Kammerchor ausgeschlossen. Hier ging es längst nicht mehr um Haare – es ging um Kontrolle versus Selbstbestimmung.

Ich habe mich damals bewusst entschieden, nicht über seinen Kopf hinweg zu bestimmen. Ich habe ihm die Situation erklärt: „Du kannst die Haare umfärben und beim Bundeskanzler singen. Oder du entscheidest dich dagegen – dann bist du allerdings raus.“

Seine Antwort war klar: „Dann gehe ich ganz raus.“ Und er zog das durch.

Mein zweiter Sohn, der gerade erst bei den Doms angefangen hatte, tat es ihm gleich. Damit verlor der Chor eine seiner besten Stimmen – und ich wusste: Meine Kinder haben einen Schritt in ihre Eigenständigkeit gemacht. Okay, der Jüngere hat es wohl eher seinem großen Bruder nachgemacht.

Was hier wie Trotz aussieht, ist in Wahrheit gesunde Selbstbehauptung. Ja, und ich habe das voll unterstützt.

Die Stimmen der anderen

Was mich fast mehr beschäftigte als der Chorleiter, waren die Reaktionen der anderen Eltern. Viele sprachen mich an: „Claudia, das kannst du doch nicht machen! Das ist doch so bedeutungsvoll, bei den Doms zu sein.“

Aber seien wir ehrlich: Bedeutend für wen? Für die Außenwirkung, fürs Prestige, fürs gesellschaftliche Bild. Für meinen Sohn war es nicht bedeutend. Er hat es bis heute nicht gebraucht und nie bereut.

Genau da liegt der Kern: Viele Eltern hätten sich das nie getraut. Sie hätten ihr Kind gezwungen, hätten seine Phase weggedrückt, um den Schein nach außen zu wahren. Doch damit lernen Kinder nicht, authentisch zu leben – sondern sie lernen, dass Anpassung wichtiger ist als ihre eigene Wahrheit.

Normopathie im Alltag

Das Beispiel zeigt: Normopathie beginnt nicht in den großen Systemen, sondern im Kleinen.

In der Schule, wenn alle dieselbe Meinung haben und das Kind, das anders denkt, als „komisch“ gilt.

Im Beruf, wenn man die Präsentation lieber anpasst, statt die unbequeme Wahrheit auszusprechen.

In Familien, wenn Harmonie über Ehrlichkeit gestellt wird.

Normopathie ist nicht böse gemeint … sie entsteht aus dem Bedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Doch sie kostet uns unsere Lebendigkeit.

„Alle machen es so“ – das ist kein Argument für Richtigkeit. Es ist oft nur ein Zeichen dafür, wie tief Menschen verlernt haben, ihrem eigenen Gefühl zu vertrauen. Diese Metapher der 49 Jungs, die nach Westen laufen, während einer entgegengesetzt rennt, zeigt es perfekt: Gleichschritt ist nicht automatisch der richtige Schritt.

Was wirklich gesund ist

Maaz hat recht: Die Krankheit liegt nicht im Abweichen, sondern im starren Mitschwimmen. Gesund ist es nicht, angepasst durchzuhalten. Gesund ist, sich selbst treu zu bleiben – auch wenn es unbequem ist.

Für mich war es damals klar: Lieber verliert mein Sohn den Platz im Chor, als dass er sich selbst verliert. Lieber wird er „der, der entgegengesetzt rennt“, als dass er brav im Gleichschritt marschiert.

Denn Lebendigkeit entsteht nicht aus Normen. Sie entsteht aus Mut, aus Authentizität, aus Selbsttreue.

Der erste Schritt aus der Normopathie

Der erste Schritt aus der Normopathie ist einfach, aber nicht leicht: Innehalten und fragen: „Will ICH das wirklich – oder tue ich es nur, weil es erwartet wird?

Diese eine Frage kann alles verändern. Sie bringt uns zurück zu uns selbst, weg von dem, was andere für richtig halten, hin zu dem, was FÜR UNS richtig ist.

Und jetzt du

Schau mal ehrlich auf dein Leben:

Wo rennst du nach Westen, nur weil alle nach Westen rennen?

Wo hast du dich angepasst, obwohl es sich innerlich falsch angefühlt hat?

Und wo könntest du den Mut finden, endlich in die andere Richtung zu laufen?

Normopathie klingt nach einem komplizierten Fachwort. In Wahrheit ist es nur ein anderes Wort für das, was uns alle betrifft: den Kampf zwischen Anpassung und Echtheit.

Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit: Normalität macht nicht gesund. Selbsttreue schon.

Die Rückkehr zur inneren Verantwortung ist ein Akt der Selbstliebe – und damit der Liebe zur Welt.

Über die Autorin: Ich begleite Menschen dabei, wieder zu ihrer inneren Wahrheit zu finden. Mein Ansatz verbindet spirituelle Weisheit mit Klarheit – für ein Leben, das von innen heraus stimmig ist.

Teile diesen Beitrag: Falls du jemanden kennst, der gerade zwischen Anpassung und Selbsttreue ringt. Manchmal ist es der Mut eines anderen, der uns zeigt: Es ist okay, entgegengesetzt zu laufen.

Claudia Schwab
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